In unserem ersten Rundschreiben haben wir Ihnen unsere Gemeinschaft vorgestellt, um Ihnen einen Überblick zu verschaffen und Ihr Interesse zu wecken. Vielleicht setzt Sie die Überschrift dieser Ausgabe in Erstaunen, aber es ist wirklich so, dass Nichtalkoholiker in unserer Gemeinschaft eine große Rolle gespielt haben und auch heute noch spielen. Zu dem Begriff Nichtalkoholiker ist zu sagen, dass es sich dabei im allgemeinen nicht um Abstinenzler handelt, sondern um Menschen, die zwar Alkohol trinken, aber eben keine Alkoholiker sind.
So war es am Anfang
Die beiden Gründer der Gemeinschaft Bill W. und Dr. Bob haben nur durch die Vermittlung von verständnisvollen Nichtalkoholikern (NAs) zusammengefunden. Es waren NAs – Ärzte, Krankenschwestern und Geistliche – die es möglich machten, dass trockene Alkoholiker Kontakte zu noch Trinkenden aufnehmen konnten, um diesen von ihrem Weg aus der Sucht zu berichten. Das Prinzip der Anonymität wurde akzeptiert, auch und besonders von der Presse, für die es eine neue Erfahrung war, über eine Gemeinschaft zu berichten ohne Namen von Personen zu nennen. Geschäftsleute, die als potenzielle Geldgeber angesprochen wurden, stellten ein geringes Startkapital zur Verfügung. Sie bewirkten aber durch die Verweigerung jeder weiteren finanziellen Unterstützung, dass kein Geld- und Besitzdenken in der Gemeinschaft aufkam. Sie hatten als NAs erkannt, dass Geld der Gemeinschaft schaden würde. Und so erhält sich die Gemeinschaft auch heute noch durch eigene Spenden und lehnt jede finanzielle Zuwendung von außen ab.
So ging es weiter
Als die Gemeinschaft dann wuchs, bat man NAs um Hilfe bei wichtigen Fragen in Bezug auf den Aufbau und die notwendige Koordination. Nichtalkoholiker, die als Fachleute auf dem Gebiet des Alkoholismus an vorderster Front tätig waren, hatten großen Anteil an dem Aufbau von AA. Sie arbeiteten mit AA zusammen, indem sie ihre Erfahrungen mit AA an Kollegen und Freunde weitergaben. Sie hielten Vorträge vor Fachleuten und in der Öffentlichkeit über die Wirksamkeit unseres Programms. Ihr persönlicher Einsatz war für die weitere Entwicklung und Akzeptanz von AA in der Öffentlichkeit von großer Bedeutung.
So ist es heute
In der Heimat von AA, in Amerika, aber auch weltweit gibt es viele Nichtalkoholiker, die bereit sind, uns auf ihrem jeweiligen Fachgebiet zu beraten und zu vertreten. Sie beraten uns ebenso auf allen Dienstebenen von der Region bis zur Gemeinsamen Dienstkonferenz und greifen als Freunde schlichtend in Diskussionen ein, bevor die Wellen der Emotionen über uns zusammenschlagen.
Wir sind hier und heute jedem NA dankbar, der sich für uns und unsere Arbeit interessiert und bereit ist, wenn es seine Zeit erlaubt, in unseren verschiedenen Gremien mitzuarbeiten, oder einfach unser Programm der Genesung zu empfehlen, wenn er es aus seiner Sicht für empfehlenswert hält. Es sind die NAs in den unterschiedlichen Berufsgruppen auf dem Gebiet des Alkoholismus, die in der Öffentlichkeit und in den Medien für uns sprechen können. Wir Alkoholiker können unter Wahrung unserer Anonymität nur über uns und unsere Erfahrungen mit den AA sprechen, nicht für die AA.
Es wäre nicht nur für unsere Trockenheit gefährlich, aus unserer Anonymität hervorzutreten und im Licht der Öffentlichkeit zu stehen, sondern auch für das Überleben der ganzen Gemeinschaft. Die Anonymität ist die geistige Grundlage unserer Gemeinschaft. Sie gibt dem Hilfesuchenden Sicherheit und das Gefühl der Geborgenheit und bewahrt manchen trockenen Alkoholiker vor Hochmut und Profilierungssucht.
Die Anonymen Alkoholiker haben natürlich auch eine Rechtsform, die dem Gesetz entspricht und den Namen „Interessengemeinschaft der Anonymen Alkoholiker e.V.“ trägt. Der 1. Vorsitzende dieses „e.V.“ ist immer ein NA. Bis Februar 1999 war das unser Freund Bodo Dombrowski, der Ihnen hier kurz über sein Leben und seine Erfahrung mit AA berichtet:
Mein Rückblick auf 12 Jahre ehrenamtliche Mitarbeit – im AA-Jargon „Dienst“ – bei den Anonymen Alkoholikern ist von der Tatsache bestimmt, persönlich und beruflich eine Bereicherung erlebt zu haben. Da ist dieser kleine „e.V.“ mit maximal 20 ehrenamtlichen Mitgliedern als Interessenvertretung einer großen Selbsthilfegemeinschaft von ca. 2.000 selbständigen Gruppen in Deutschland. Laut Präambel ist die einzige Voraussetzung für die Zugehörigkeit der Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören. Weitere Elemente von Organisation sind ausgeschlossen. Damit trotz-dem alles funktioniert, gibt es verschiedene Dienstebenen mit einer konsequenten Rotation seiner „Stelleninhaber“, eine ständige Verbreitung der Verantwortungsbasis innerhalb der Gemeinschaft und erneuernde Veränderung der Führung durch neue Delegierte von der Gruppenbasis. Diese Vorgehensweise ist auch ein Ernüchterungs- und Genesungsprogramm für den üblichen „Rausch“ des Festhaltens und Etablierens von Posten und Funktionen in unserer Gesellschaft.
„Entdeckt“ und angesprochen wurde ich von AAs in meiner hauptberuflichen Tätigkeit im sozialpädagogischen Fortbildungszentrum eines Bundeslandes. Als Diplomsozialarbeiter und Supervisor habe ich in meiner Dozententätigkeit mit vielen Menschen, Gruppen, Institutionen und Strukturen in unserer pluralistischen Gesellschaft arbeiten und manchmal auch kämpfen müssen.
Die Erfahrungen mit den genesenden Alkoholikern, den Bedingungen und Prinzipien der AAs waren und sind für mich eine Alternative zum üblichen Miteinander in unserer Welt. Es ist eine empfehlenswerte Gelegenheit, Demokratie und Verantwortung in einer spirituell ausgerichteten Gemeinschaft als NA zu erleben, zumal es sich um Menschen handelt, die von der Gesellschaft in ihrer „tiefsten“ Lebensphase eher mit Verachtung als hoffnungslose Fälle und fachlich zum Teil resignierend behandelt wurden.
Eine weitere 1. Vorsitzende, eine NA und Freundin von AA, war Frau Dr. Karin Grundig. Einige Jahre vor der Wende gab es schon AA in der DDR, zwar im Verborgenen, aber AA war da. Auf geheimnisvollen und teilweise verworrenen Wegen wurde auch Karin Grundig in Stadtroda auf uns aufmerksam. Auf ihre Veranlassung wurde 1986 eine AA-Gruppe in Stadtroda gegründet. Den Weg dahin und bis heute soll sie selbst erzählen:
Seit 1968 war ich beruflich in der Suchtkrankenhilfe ein-gebunden, leitete dann eine Station im Psychiatrischen Krankenhaus in Stadtroda. 1980 wurde ich Chefärztin auf der Suchtstation. Eines war mir bald deutlich, dass ich machtlos gegenüber dem Alkohol war, dem meine Patienten verfallen waren. Aber warum und weshalb konnte ich nicht einordnen. Meine medizinisch-psychiatrischen Kenntnisse halfen mir wenig, so dass ich jeder Spur nachging, überall dort, wo unkonventionell sich Möglichkeiten auftaten, um irgendwie Trinkern helfen zu können, mit dem Trinken aufzuhören. Ich traf Dr. Walter Lechler und Prof. Dr. Lothar Schmidt, die so-zusagen die „junge Kollegin“ in die Geheimnisse von AA ein-führten. Mich faszinierte die Geschichte von Bill und Bob und die Entwicklung der Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker, und mir wurde deutlich, dass machtlos nicht gleichzeitig hilflos bedeutet. Der wesentliche Schritt für mich war, die Erkenntnis zu erlangen, dass ich als Professionelle keine Hilfe leisten konnte, sondern dass jeder seine Genesung – ein Leben ohne Alkohol – selbst in Angriff nehmen muss, wenn er ein Alkoholiker ist. Für mich war die größte Errungenschaft, dass ich begriff, dass dem Alkoholismus mit dem Verstand nicht beizukommen ist. Das griechische Wort „Krisis“ (Krise) bedeutet Chaos und Chance, und aus diesem Grunde wird einfühlbar, dass aus einer völligen Niederlage ein Weg zur Befreiung und Stärke möglich wird. Wenn ich zugebe, machtlos zu sein, wird mir der Weg geöffnet über die Umkehr. 1990 nahm ich am deutschsprachigen Treffen in Oldenburg teil. Ermöglicht wurde mir das durch Siegfried und Irene aus Pyrmont, wofür ich heute noch danke. 1991 auf einem Arbeitsmeeting in Gera wurde ich von Friedhelm und Heinrich gefragt, ob ich als Nichtalkoholikerin bei den Anonymen Alkoholikern mitarbeiten würde. Im Februar 1992 war meine erste Sitzung beim Gemeinsamen Dienstausschuss. Im April fuhr ich dann zur Gemeinsamen Dienstkonferenz nach Darmstadt. Damit begann meine Dienstzeit bei den AA.
In der Zwischenzeit hatte ich genügend Gelegenheit, mich mit der Literatur, vor allem auch mit den Traditionen und Konzepten, auseinanderzusetzen. Ich bemühe mich um Verständnis der Struktur und den damit verbundenen Aufgaben und glaube, dass ich zunehmend mehr Durchblick bekomme. Nach vier Jahren bin ich nochmals als NA gewählt worden, und im Februar dieses Jahres wurde ich dann zur 1. Vorsitzenden der Interessengemeinschaft der Anonymen Alkoholiker e. V. gewählt.
Soweit der Bericht von unserer Nichtalkoholikerin Dr. Karin Grundig.
So kann es heute weitergehen
Im Laufe der Entwicklung hat es sich immer wieder gezeigt, dass es am besten ist, wenn unsere Freunde, die Nichtalkoholiker, uns in der Öffentlichkeit weiterempfehlen. Deshalb sprechen wir Sie an, die sich als Fachleute beruflich mit Alkoholismus beschäftigen und als erste mit Betroffenen zusammenkommen. Sie sind es, die sich ein Urteil über die Wirksamkeit unseres Genesungsprogramms machen können. Wir können nur über unsere persönliche Erfahrung als Betroffene berichten. Mit Ihrer Hilfe und auch mit Hilfe der Medien wird es uns eher möglich sein, unsere Hauptaufgabe zu erfüllen, die Botschaft der Genesung an Alkoholiker weiterzugeben, die noch trinken. Dabei geht es nicht nur darum, vielen Menschen zu helfen, sondern es geht um unsere eigene Trockenheit und den Erhalt unserer Gemeinschaft nach der Erkenntnis: „Nur was ich weitergebe, kann ich behalten.”
Aus dem Rundschreiben an Fachleute „Über AA“ – Ausgabe 02
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